Daß Fugen-"L"
Ein Bericht über neueste Fort(l)schritte
in der L(!)inguistik
mit besonderer Belücksichtigung der Computer(l?)inguistik
"Mich wird ganz snurrig. Igittegittegit, es is
ßu
gräsig!"
(Mamsell Kallmorgen in [Seidel
1906])
1. Einfühlung
In der deutschen Sprache sind neben anderen Widrigkeiten die Vielzahl der Komposita und Ableitungen eine Quelle ständiger Beschwerden. Studierende aus anderen EU-Ländern, ja selbst solche aus Japan und vom amerikanischen Kontinent klagen zunehmend über diese Unsitte, die ihnen den täglichen Umgang im Gastland gewissermaßen vergällt, sie sind, wie sie sich dann selbst ausdrücken, "schlecht zufrieden wegen des Wortungeheuerunwesens". Nun kann man, wie in vielen Bereichen, diesem Problem nicht pauschal und pragmatisch begegnen, etwa indem man in die sich anbahnende Rechtschreibreform eingreift (was theoretisch möglich wäre) und einfach diejenigen Wörter inkriminiert, die beispielsweise mehr als 17 Buchstaben haben. Hier sind vielmehr diffizilere Instrumente gefragt, und diesen gilt es, an Hand eines konkreten Beispiels auf die Schliche zu kommen.
Unsere Forschungsarbeiten haben sich deshalb (zunächst) auf ein Teilproblem konzentriert, nämlich das der Fugenelemente. Diese meist kurzen Buchstabenfolgen, die in der gesprochenen Sprache kaum, oder nur ansatzweise vernehmbar sind, bereiten große Schwierigkeiten für diejenigen, die nicht im deutschen Sprachraum aufgewachsen sind. Um das Problem noch einmal kurz zusammenzufassen: man muß bei Wortbildungen die Bestandteile, die man zusammenkleistern möchte, in einigen Fällen Gebrauch von Fugenelementen machen, in anderen nicht. Wann dies jedoch zu geschehen hat, ist nicht hinreichend erforscht. Historische Gründe werden angeführt, und das mit Recht (vgl. Fleischer 1975, 121ff). Für die Praxis ist dies jedoch wenig nützlich, da in den meisten Fällen, d.h. weder bei sog. nativen SprecherINNen als auch bei dem Rest der Menschheit die Entwicklung vom Althochdeutschen über das Mittelhochdeutsche bis in unsere Gegenwartssprache kaum nachvollzogen werden kann. Nun könnte man einwenden, dies sei nicht von Belang, denn es gibt eigentlich nur ein Beispiel, ein notorisches allerdings, bei dem die Existenz eines Fugenelementes auch einen semantischen Unterschied macht:
'Landmann' vs. 'Landsmann'.
Belege für 'Landfrau' sind rar, Belege für 'Landsfrau' noch mehr, obwohl in den geschlechtsneutralen Formen 'Landkind' und 'Landeskind' wieder ein Bedeutungsunterschied hervorlugt.
Bei unseren Forschungen zu den Fugenelementen, deren Anfänge mittlerweile bis in die frühen 80-er Jahre zurückdatieren, sind wir auf ein Phänomen gestoßen, das sich in diese Problematik trefflich einpassen läßt. Wir haben nämlich das "Fugen-L" im Deutschen aufgespürt. Als erste, so dürfen wir stolz behaupten, ist es uns gelungen, die Existenz dieses sprachlichen Teilchens zu postulieren. Wir sind gespannt auf die Flut von empirischen Untersuchungen, die sich zweifelsohne an diese Entdeckung anschließen werden. Wenn auch und dies sei hier schon einmal verraten das Fu gen-L niemals an der Oberfläche auftaucht, so ist es doch von eminenter theoretischer Bedeutung (vergleichbar dem Thau-Neutrino) und entlastet den Zweitspracherwerb (17 Buchstaben Hürde, s.o.) von zusätzlichen Schwierigkeiten.
2. Empirische Untersuchungen
Nach extensiver Untersuchung von real existentierenden Texten (Internet-Chat-Protokollen, eigener und fremder email-Boxen, den Kommentaren zu bestimmten www-Seiten, u.v.a.m.) wurde uns klar, daß eine generelle Beschäftigung mit dem Thema 'Fugenelement' noch verfrüht ist. Statt dessen stießen wir immer häufiger auf Belege, die bislang, wenn auch bekannt und in aller Munde, nicht hinreichend linguistisch analysiert wurden. Ein solches Wort ist beispielsweise "Wollust", das erstaunlicherweise recht oft in unserem Datenmaterial auftauchte (3764x, um genau zu sein), aber auch "Brüllaffe" erschien (3x), ebenfalls 'Abelwitz', 'Labelei' und 'Maulwurfshausen' (die letzten drei jeweils 1x). Die ersten beiden Belege aus dieser letzten Gruppe ( der unikalen, wie wir sie zu bezeichnen pflegen) erschienen uns zunächst als pure Schreibfehler, wahrscheinlich von einem in China gebürtigen Zeitgenossen hervorgebracht. Das dritte Beispiel tritt dieser These vehement entgegen; denn wann hat man schon eine systematische Velwechserung der Buchstaben 's' und 'f' beobachten können?
Um nicht mit den problematischen Belegen zu beginnen, haben wir uns zunächst an die häufigen gehalten, beispielsweise also an das Kompositum "Wollust". In der Hoffnung natürlich, daß auch die seltener auftretenden Belege in das theoretische Gerüst eingebaut werden können. Wir kommen darauf zurück.
2.1 Das Problem mit der "Wollust"
Dieses Wort ist eines der ältesten der deutschen Gegenwartssprache, denn schon im Mittelalter war es in dieser Form bekannt, wenn man es dort auch noch klein schrieb. Es bezeichnete ein Vergnügen, einen Genuß, der jedoch schon im mhd. 'erotisch-abwertig' zu verstehen war (vgl. Mackensen 1966, 406). Schaut man nun ins benachbarte und befreundete Ausland, so finden wir hier die Begriffe "voluptuousness", oder auch "volupté". Wenn auch das englische hier etwas kompliziert daherkommt, so ist das französische Wort doch eingängig und ergreifend. Und man könnte meinen, die lateinischen Ursprünge, die sich bei den Engländern und Franzosens noch gut erkennen lassen, wären auf geheimnisvollen Pfaden in die deutsche Sprache eingesickert.
Dem ist nun aber nicht so, denn wir haben ja das Wort "Wolle", das als Ausgangsbasis für die Komposition anzusehen ist. Wie einjeder und einejede weiß, ist hiermit das Produkt der Schafe gemeint, mitunter auch das der Bäume (besonders deutlich in "Baumwolle", engl. "cotton", frz. überraschend ähnlich "coton"), das es uns ermöglicht, den langen und finsteren Winternächten zu trotzen.
Wie sieht es nun aber mit dem zweiten Bestandteil aus? Wir kennen diesen Begriff auch bereits im Mittelalter (Mackensen 1966, 227), und wir finden ihn auch schon im Gotischen als "lustus", das auf das lateinische "lascivus" zurückgeht. Wie man allerdings aus einem "a" ein "u" machen kann, das wissen nur die Goten, und die sind bekanntlich ausgestorben (womöglich wegen dieser Tatsache).
Uns bleibt nur zu konstatieren, daß die Wörter "Wolle" und "Lust" eine enge Verbindung eingegangen sind, bei der das zweite "l" des ersten Wortes zwar prinzipiell vorhanden ist, nicht aber mitgeschrieben und mitgedacht wird. Und der Grund für diese Annahme liegt natürlich in sozialen Gegebenheiten der Vergangenheit. In früheren Zeiten war es nämlich üblich, daß man (womöglich auch frau) eine wollene Bekleidung anzog, bevor in der kalten Nacht das Bettchen aufgesucht wurde. Darin mögen sich dann die oben erwähnten erotischen Abwertigkeiten vollzogen haben, und bei dieser Beschäftigung ist es durchaus plausibel, daß u.a. ein Konsonant - eben unser Fugen -L - fallengelassen wurde.
2.2 Weitere Funde
Wir haben uns bei den empirischen Untersuchungen zum Fugen-L natürlich nicht nur auf das Beispiel aus dem vorigen Abschnitt beschränkt, obwohl es uns als ein besonders einleuchtendes, auch dem nicht linguistisch Vorgebildeten intuitiv verständliches Demonstrationsobjekt erschien. Nein, wir haben auch in dem weiteren Fundus der deutschen Sprache gewühlt, das unterste zu oberst gekehrt, und sind dabei - manchmal unverhofft - auf das Fugen-L gestoßen.
Einige Belege und ihre Interpretation mögen dies illustrieren, bevor wir im 3. Abschnitt unsere Theorie in ihrer ganzen Tragweite ausbreiten.
Dirndlkleid
Auf den esten Blick springt uns hier ein "l" entgegen, das wird sicher unbestritten sein. Jedoch, es sind eigentlich zwei. Nur daß uns das zweite weniger augenfällig ist, weil es mit dem vorherigen Konsonanten, einem "k" gewissermaßen eine Verschmelzung eingegangen ist. Insofern ist auch die zunächst einleuchtende Interpretation, daß es sich um eine bestimmte Ausprägung von "leid" handeln könnte, alsbald wieder zu verwerfen. Dies rührt in erster Linie von der Unverständlichkeit des ersten Bestandteils, nämlich "Dirndlk", mit dem kaum jemand etwas anfangen kann. Bleibt also das erste "l", ein weitaus besserer Kandidat, oder sollten wir Kandidatin sagen?, für ein an der Oberfläche erscheinendes Fugen-L.
Nach langwierigen kontrastiven Untersuchungen scheint diese zunächst plausible Hypothese nicht haltbar. Wir finden nämlich nichts, was uns in der Annahme unterstützt, daß "Dirnd" eine sinnvolle semantische Einheit ist. Dies mag sich in der Zukunft ändern, aber wir können nur deskriptiv auf dem heute vorhandenen Datenmaterial arbeiten. Und insofern müssen wir die Annahme, das erste "l" unseres Belegs sei ein Fugen-L, revidieren.
Liebelei
Hier sehen die Verhältnisse schon anders aus. Wir haben als ersten Wortbestandteil das Wort "Liebe", als zweiten das Wort "Ei". Beide wohlbekannt und auch im täglichen Leben der Bundesbürger gebräuchlich. Übrig bleibt ein einsames "l", also ein Kandidat/eine Kandidatin für das Fugen-L.
Nähere Untersuchungen haben allerdings ergeben, daß es sich hier nicht um ein Ei im eigentlichen Sinne handelt, so gerne wir dies hätten. Vielmehr soll der gesamte Ausdruck bezeichnen, daß es sich um eine weniger ernst zu nehmende Variante des Grundwortes handelt. Das zunächst als Fugen-L hypostasierte "l" erweist sich hier als rein phonologisch bedingte Variante des Suffixes "-ei" und hat insofern nichts - oder nur wenig - zu tun mit dem Morphem "Ei". Würde die letztere Interpretation gültig sein, so wäre fernerhin die drängende Frage unbeantwortet, ob es sich um ein rohes oder gekochtes Ei handelt. Ein Informant (mit Namen Hubert Eirich) wies auch darauf hin, daß er nur von einem paarweisen Auftreten wisse, das Wort also eigentlich "Liebeseier" heißen müsse. Wir haben dies als eine idiosynkratische Eigenart des Herrn Eirich angesehen, und keine weiteren Untersuchungen angestellt. Der Name unseres Informanten wurde im übrigen unkenntlich gemacht; eigentlich heißt er Eirbechr und wohnt in Pullach.
Starrsinn
Im Gegensatz zu den bisherigen Belegen haben wir hier ein Wort, das sich dadurch auszeichnet, kein einziges "l" zu besitzen. "Deuker noch mal" würde der Lipper bemerken, und er hat wie immer recht. Jedenfalls oberflächlich. In Wirklichkeit muß natürlich angenommen werden, daß eine Vereinigung des Adjektivs "starr" mit dem Nomen "Sinn" nur mithülfe eines Bindegliedes möglich ist. Wie sollte es auch sonst sein? Kann man einen Handtuchhalter etwa mit einer Kachelwand ohne ein Klebemittel verbinden (z.B. Patt(l)ex)? Mitnichten, und genauso ist es mit der Sprache.
"Starrsinn" ist eigentlich "Starr - (l) - sinn", und wir können hier, an diesem Beispiel, einen ersten Schritt zu einer befriedigenden theoretischen Lösung aufzeigen.
Kombiniert man nämlich ein Adjektiv einer bestimmten Sorte mit einem Nomen einer ebenfalls bestimmten Sorte, so braucht man eine Verbindung (einen Klebstoff oder Kleister, für die Heimwerker), der nach vollzogener Handlung wegfallen kann. Für unser Beispiel können wir also die folgende Regel aufstellen:
(r1) { [+ konkr] + [+ fest] + [- beweglich] } ¥ { [- konkr] + [+ mental] }
==> <a> ¥ "l" ¥ <b>
==> <a> ¥ <b>
Diese Regel ist sicher einfach, intuitiv verständlich, und auch den Ausländern leicht beizubringen, besagt sie doch nur, daß man unter gewissen Bedingungen ein Fugen-L einzusetzen hat, das man dann mit einer weiteren Transformation flugs wieder löscht. Wenn wir die im vorigen Satz an einem Beispiel vorgeführten Zusammenhänge abstrahieren können, wird ein wesentlicher Fortschritt im Erlernen der deutschen Sprache (± Rechtschreibreform) erreicht werden. Wir wenden uns also im folgenden Kapitel der Verallgemeinerung unserer empirischen Ergebnisse zu.
3. Zur Theorie des Fugen-L's
"Von nichts kommt nichts", so sagt der Volksmund, und da hat er in den meisten Fällen recht. Und so könnte man meinen, daß bei unserem Untersuchungsgegenstande unter abduktiven Gesichtspunkten eigentlich nichts übrig bleibt. Denn, wie wir oben gezeigt haben, weigert sich das Fugen-L hartnäckig, an der Oberfläche zu erscheinen. Wir hätten also ein "nichts", und könnten demgemäß schließen, das dies auf einem 'nichts' beruht. Jedoch weit gefehlt: das sonst in den Naturwissenschaften angenommene Prinzip von Ursache und Wirkung gilt nicht in allen Bereichen der Sprachwissenschaft. Wir wollen dies in theoretischer und anwendungsorientierter Sicht untermauern, wenden uns also zunächst den Kompetenzaspekten zu, um sodann einem Bereich der Anwendungen sprachwissenschaftlicher Bemühungen näher zu treten. Es ist dies - soviel sei schon einmal verraten - die Computerlinguistik, die in ihrem Namen selbst schon Anlaß für derlei Untersuchungen bietet.
3.1 Der ideale Sprecher/Hörer
Wir begegnen hier einem Sachverhalt, den es im wirklichen Leben nicht gibt, der jedoch den Grundstein der theoretischen Linguistik ausmacht. Der ideale Sprecher und sein Kompagnion, der ebenfalls ideale Hörer sind die Wesen, denen es nachzuspüren gilt. In glücklichen Momenten erwischen wir diese Gesellen, ertappen mitunter auch ihre Transformationsprozesse, bei denen sie etwäige Tiefenstrukturen in eine aussprechbare oder gar aufschreibbare Oberfläche überführen. Diese Augenblicke sind des Forschers höchste Lust und Wonne, die man nur mit dem Genuß vergleichen kann, den ein Physiker bei dem Aufprall eines Neutrinos auf ein Anti-Neutrino erlebt (vgl. Dürr 1989). Und das ist selten genug.
In der Linguistik sind hierzu verschiedene Methoden entwickelt worden, die denen der Teilchenbeschleuniger in der Physik nicht unähnlich sind. Diejenige, der wir uns erfolgreich bedient haben, besteht darin, Instanzen eines idealen Sprechers oder auch Hörers in einen rauschähnlichen Zustand zu versetzen. Mitunter sind auch weibliche Ausprägungen dieser Gattung geeignete Untersuchungsobjekte. Wir flößen den Instanzen einen CocktaiL ein, der nach folgendem Rezept sorgfältig und mit Liebe hergestellt wird: 2 cl Campari, ein gut abgehangenes Gummibärchen (hellrot, vgl. Hoeppner 1997), ein halbes Radieschen und eine Prise guten Meerettich. Diese Mischung wird an kühlem Orte ein paar Tage sich selbst überlassen, damit die Ingredienzen sich gut durchdringen und aneinander gewöhnen können. Für den eigentlichen Versuch wird sodann das Ganze mit Sekt und einem Schuß Curaçao aufgefüllt. Es hat sich als förderlich erwiesen, dem ganzen dann noch eine Handvoll weichgekochter Buchstabennudeln hinzuzufügen.
Dem idealen Sprecher bzw. Hörer, dem zumeist schon bei der Zubereitungsprozedur das Wasser im Munde zusammenläuft, wird sodann dieser CocktaiL verabreicht. Es dauert nicht lange und die Versuchsperson beginnt, Tiefenstrukturen zu verbalisieren, in denen eine zunehmend größere Zahl von "l's" beobachtet werden kann. Das Resultat ist ähnlich dem Verhalten nicht-idealer Sprecher und Hörer, das man treffend mit "lallen" bezeichnet. Kollegen haben uns darauf hingewiesen, daß womöglich eine überproportional hohe Zahl von "l's" bei den Buchstabennudeln vertreten waren, aber dies konnte durch einen Kontrollversuch widerlegt werden, bei dem sämtliche Nudel-l's manuell entfernt und weggeschmissen wurden. Die Versuchspersonen hat dies überhaupt nicht gekümmert. Allerdings hat eine andere Variante dazu geführt, daß signifikant weniger "l's" in Erscheinung traten. Wir hatten nämlich statt Buchstabennudeln einmal Sternchennudeln eingesetzt (es war ein Sonntag, die Läden waren geschlossen, und wir hatten vorher versäumt, den Buchstabennudelvorrat aufzustocken). Das Resultat bestand darin, daß erstens kaum Fugen-L's auftauchten, dafür jedoch eine Unmenge ungrammatikalischer Sätze geäußert wurden. Ein Beispiel mag dies illustrieren:
(B*) "Fleuchtete nicht mehr als öfters (sic!) dreimal die Käsekuchens über farblose grüne Ideen".
Barer Unsinn natürlich, aber es erklärt zumindest, wieso das Sternchen ("*") seit alters her als Markierung für unwohl geformte Sätze herhalten muß.
Wir sind jetzt in der Lage, die oben in Abschnitt 2.2 angeführte Regel (r1) zu generalisieren, und zwar folgendermaßen:
(rß) { [+ anything] + [+ algunas_cosas] } ¥ { [± something] }
==> <a> ¥ "l" ¥ <b>
==> <ab>
Die Allgemeingültigkeit dieser Regel wird dadurch unterstrichen, daß wir sie mit dem emphatischen "ß"-Suffix bezeichnen, wie es auch schon im Titel unserer Arbeit verwendet wurde, dem wohlwollenden Leser, der holden Leserin aber womöglich noch gar nicht aufgefallen ißt.
Um ein einfaches, aber gleichwohl unmittelbar einleuchtendes Beispiel für (rß) zu geben: wir wählen zwei beliebige Lexeme, etwa "Senf" und "Soße", rühren sie zusammen und erhalten "Senflsoße". Diese Verbindung ist sehr instabil, sodaß sie, kaum daß dies geschehen ist, zu "Senfsoße" wird. Um die Rekursivität zu demonstrieren, wählen wir jetzt ein weiteres Wort, z.B. "Schlamassel" und schmeißen es in die Senfsoße. Nach einigem Rühren erhalten wir kurzfristig "Senfsoßelschlamassel", und sodann, wie erwartet, das wohlbekannte Wort "Senfsoßenschlamassel". Zwar hat sich hier ein "n" eingeschlichen, aber das ist eine andere Geschichte. Darüber müssen wir noch nachdenkeln.
3.2 Anwendungsperpektiven
Um die Tragweite unserer rß-Theorie zu zeigen, wenden wir uns abschließend der Compterlinguistik zu (tiefenstrukturell: Computer-l-linguistik). Hier wird u.a. versucht, Ausdrücke einer Sprache in die einer anderen Sprache zu übersetzen, wobei besonderes Gewicht darauf gelegt wird, daß keine allzu großen Bedeutungsunterschiede entstehen. Z.B. wird das deutsche Wort "Haus" in sein englisches Äquivaent "house" übersetzt, indem wir alles bis auf das "us" wegschmeißen. Sodann holen wir aus unserer englischen Buchstabenkiste ein "h", ein "o" und ein "e", kleben die ersten beiden vor das Rumpfmorphem "us" und setzen das englische "e" dahinter. Fertig!
Im Französischen geht dies prinzipiell genauso, nur daß wir hier von dem diskontinuierlichen Rumpfmorphem "a - s" ausgehen, um sodann in geeigneter Weise die französischen Buchstaben "m", "i", "o" und "n" einzufügen.
Die Bedeutung unseres Fugen-L's wird hier besonders augenfällig. Wollen wir z.B. das oben schon analysierte Wort "Senfsoßenschlamassel" übersetzen, so bilden wir zunächst seine Tiefenstruktur:
{ [(Senf) (l) (Soße)] (l) (Schlamassel) }.
Für die Engländer haben wir dann spezielle Regeln, die unsere Fugen-L's übersetzen. Diese sind kontextsensitiv und berücksichtigen die Einbettungstiefe (EBT). Beispielsweise:
(r_d_e_"l"1) "l" ¥ (EBT < 1) ==> " "
(r_d_e_"l"2) "l" ¥ (EBT > 1) ==> " - ".
Wir übersetzen also das Fugen-L entweder in ein Leerzeichen oder in einen Bindestrich, je nach Einbettungstiefenwert. Indirekt erhalten wir so auch eine Motivation für die Existenz des Fugen-L's im Deutschen, ohne unsere idealen Sprecher, Hörer und Nuscheler konsultieren zu müssen: woher sollten wir im englischen sonst Anlaß haben, ein Leerzeichen bzw. einen Bindestrich herbeizuzaubern? Es ist evident, daß das bereits oben angesprochene Kompositionalitätsprinzip ("Von nichts kommt nichts") hier erneut zum Tragen kommt, und wir erhalten ohne große Mühe den englischen Ausdruck "mustard-sauce desaster". Im Französischen sind die Verhältnisse etwas komplizierter, wir brauchen mehr Regeln, die auch komplexere Umstellungs- und Einfügeoperationen umfassen. Aber es funktioniert, und wir erhalten nach geringfügig längerer Rechenzeit den schönen Ausdruck "sauce de moutarde purée".
Heftig umstritten ist in der Computerlinguistik noch, wie wir denn unser Fugen-L in das Morpheminventar eingliedern. Ist es im L-Bereich angesiedelt, und, wenn ja, wird es groß oder klein geschrieben? Oder sollten wir es in den F-Bereich stopfen, um es einfacher von den normalen "L's" unterscheiden zu können? Nun, beide Aufbewahrungsorte haben zu akzeptablen Ergebnissen in der maschinellen Übersetzung geführt, sodaß wir den Verdacht nicht ganz unterdrücken können, es handele sich hier um einen rein akademischen Streit.
4. Ausblick
Künftige Forschung wird sich weniger mit diesen Problemen auseinanderzusetzen haben als mit den sprachphilosophischen Kritikansätzen, die vor allem aus der konstruktivistischen Ecke kommen (z.B. Watzlawick 1976).Hier wird nämlich schon mal der Verdacht geäußert, das Fugen-L würde als solches gar nicht existieren, es sei eine rein individuelle Konstruktion. Ja, nicht nur dem Fugen-L wird solches vorgeworfen, sondern auch dem idealen Sprecher, der idealen Hörerin. Dies jedoch rüttelt an den Grundfesten, ist gar geeignet, unsere empirischen Untersuchungen zu erschüttern, insbesondere die Auswirkung von Buchstabennudeln und Sternchennudeln auf die menschliche Sprachfähigkeit. So behalten wir uns denn vor, in späteren Arbeiten auf diese grundsätzlichen Fragen einzugehen, und schließen unsere Betrachtungen mit einem optimistischen "daß", kehren also zum Anfang unserer Überlegungen gewissermaßen und eigentlich zurück.
Literatur:
Fleischmann, Wolfgang (1975): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Niemeyer
Dürr, Hans-Peter (1989): Wissenschaft und Wirklichkeit. Über die Beziehung zwischen dem Weltbild der Physik und der eigentlichen Wirklichkeit. In: H.-P. Dürr, W. Ch. Zimmerli (Hrsg): Geiust und Natur. Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung. Bern: Scherz, 28-46
Hoeppner, Wolfgang (1997): Und sie kommunizieren doch: Sprachliche Varietäten bei Gummibären. Auf: Gummibären-Homepage:
http://www.psychologie.uni-bonn.de/Sonstige/gummibaer
Mackensen, Lutz (1966): Reclams
etymologisches Wörterbuch der deutschen
Sprache. Stuttgart:
Reclam.
Seidel, Heinrich (1906): Reinhard Flemmings Abenteuer zu Wasser und zu Lande.
Watzlawick, Paul (1976): Wie wirklich ist die Wirklichkeit. München: Piper.